Selbstführung ist an sich kein neues Thema und geht weit über “normales Zeitmanagement” hinaus. Schon länger ist es Bestandteil von Führungskräftetrainings und Coachings — ganz im Sinne von “Gute Führung fängt bei jedem selber an”. In einer Welt von vielfältigen Lebens‑, Lern- und Arbeitsoptionen und hoher Veränderungsgeschwindigkeit ist Selbstführung plötzlich ein Thema für jeden. Auch jenseits des Arbeitskontextes.
Darüber habe ich mit Tomma Piltz (ChangeInsight) gesprochen, die als Coach und Beraterin selbst Menschen und Organisationen in Veränderungsprozesse berät. Aus eigener Erfahrung weiss sie, wie man den “inneren Kompass” immer wieder ausrichten kann. Vor ca. 2,5 Jahren hat sie nach langen Jahren ihren Führungsjob im Revenue Management verlassen, um sich selbstständig zu machen.
Was hat dir geholfen, einen “scheinbar” sicheren Hafen zu verlassen?
Der Zeitpunkt meines Ausstiegs bei meinem ehemaligen Arbeitgeber war ja so nicht geplant und kam für mich auch überraschend. Allerdings hatte ich durch erste Beratungsprojekte und Coachings bereits kleine Schritte auf dem Weg in die Selbstständigkeit eingeschlagen und das war ohnehin mein längerfristiger Plan. Ich wusste also bereits, wo ich als nächstes hinwollte, es ging nur etwas früher los. Die Klarheit darüber, was ich wollte und was meine Triebfeder dafür ist, hat mir sehr geholfen. Ich hatte mich bereits einige Jahre intensiv auf diesen Schritt vorbereitet, ohne genau zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt für den Start war. Es brauchte wohl offensichtlich diesen kleinen Schups von außen.
Dass Führung mit “sich selbst führen” anfängt, ist nicht ganz neu. Dennoch scheint “Selbstführung” noch mal neu in den Blick zu rücken. Wie siehst du das ?
Selbstführung ist in der Tat kein neues Thema, aber es wird in einer Welt mit vielfältigen Lebens‑, Lern- und Arbeitsoptionen bei (gefühlter) Zunahme von Unsicherheiten in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft immer wichtiger. Wenn man ehrlich ist, kann keiner sagen, was in 5 Jahren ist. Nicht mein Chef, nicht der Pastor, die Zukunftsforscher oder die Kanzlerin. Auch wenn man sich immer noch etwas ganz anderes „von Führung“ wünscht – nämlich Klarheit und Orientierung. Als „Shareholder-Value-Getriebene“ vermitteln Unternehmen auch noch oft genug das Bild, sichere Voraussagen geben zu können. Für Selbstständige, so wie mich, weht da eh schon ein anderer Wind. Aber auch Konzerne können keine „Lebensarbeits-Garantie“ mehr geben. Vor dem Hintergrund von steigendem Veränderungsdruck, lebenslangem Lernen und Burnout-Phänomenen muss das Thema „Selbstführung“ auch für Mitarbeiter in Unternehmen einen deutlichen höheren Stellenwert erlangen. Und das kann im Grunde nur jeder für sich angehen.
Aber es ist kein Thema, dass nur auf den Arbeitskontext beschränkt ist …?
Es ist ein Thema, das jeden angeht – ob es die Führungskraft, der Mitarbeiter, der Selbstständige (immer mehr arbeiten so), die Hausfrau oder der Rentner ist. Sowohl innerhalb als auch außerhalb von vorhandenen Strukturen. Vorgegebene Strukturen sind im ersten Moment praktisch oder sogar trügerisch, weil sie „Führung“ (scheinbar) übernehmen. Aber das muss nicht immer in meinem Sinne sein. Und vor allem kann äußere Führung nie alles abbilden, was für mich persönlich wichtig ist. Da es ein übergreifendes, lebenslanges Thema ist, sollte man m.E. sogar schon in der Schule anfangen, es zu trainieren – was ja auch mancherorts bereits geschieht (z.B. Montessori-Schule, ev. Schule Berlin).
Was ist deine Definition für Selbstführung? Inwieweit kann man das lernen oder braucht man ein besonderes Talent ?
Selbstführung bedeutet für mich, mehr Klarheit zu erlangen. Darüber wie ich mein Leben führen will, was meine Werte sind, was ich gut kann, was mir wichtig ist, wohin ich mich entwickeln möchte und wo auch meine Grenzen sind. Sich durch Reflexion darüber klarer zu werden und damit meinen Platz in Leben und Arbeit zu finden. Und mit den Herausforderungen umgehen zu können. Ich fokussiere mich mehr, treffe Entscheidungen, übernehme Verantwortung – ohne dabei gleichzeitig unflexibel zu werden.
Ob man Selbstführung lernen kann ? Auf jeden Fall.
Vielleicht gibt es auch hier Menschen, denen Selbstführung leichter fällt als anderen – wie bei vielen Themen. Aber ich bin der Meinung, dass man es lernen kann und am besten von Anfang an !
In meiner Generation (ich gehöre noch zu den Baby-Boomern) war es nicht so „en vogue“, dass man sich mit sich selber beschäftigt hat. Die Rahmenbedingungen und Erwartungen (über Eltern, Schule, Uni, Arbeit) waren klar gesetzt. Vielfalt und unterschiedliche Wege machten eher Angst. Ausprobieren und Fehler machen, neue Wege einschlagen wurde mit „mangelnder Zielorientierung“ gleichgesetzt. Es gab also noch viel Führung von außen und damit kaum Freiräume oder Training, um sich einen eigenen „Kompass“ für neue oder sich verändernde Situationen zu bauen. Und über viele Jahre haben wir – zumindest in (West-)Deutschland – in einer großen Stabilität (politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich) gelebt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass unsere „Ausrüstung“ für fragilere Situationen noch nicht passend ist und wir uns immer wieder auch Führung von „oben“ wünschen.
Wie ist die Abgrenzung zu Selbstverantwortung – wenn es überhaupt eine gibt ?
Die Übernahme von Selbstverantwortung ist für mich der Startpunkt. Selbstführung ist dann die bewusste und permanente (Neu-) Ausrichtung meines Weges. Von innen, auf Basis meiner Werte, Ziele …an den Herausforderungen der Zeit.
… und zu Zeitmanagement ?
Zeitmanagement ist ja für viele Menschen ein Versuch, mit bestimmten Tools und Verhaltensweisen (z.B. To-Do-Listen, Nein-Sagen, Prioritäten setzen, Zeit für mich …) wieder Zeit zu gewinnen. Das funktioniert aber nur begrenzt, wenn ich mir nicht grundsätzlich klar bin, was mir wichtig ist im Leben (Wie soll ich dann „NEIN“ sagen oder die richtigen Prioritäten setzen?). Ein berühmter Mann hat einmal gesagt: „Don’t manage time, manage focus“.
In dem Sinne ist Selbstführung eine grundlegende Voraussetzung für ein gutes Zeitmanagement.
Seit wann ist Selbstführung für dich ein Thema und was gehört heute für dich dazu, um es zu leben ?
Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der Veränderungen mag und auch immer schon sehr reflektiert war. Allerdings bezog sich die Auseinandersetzung lange Zeit nur auf die Dinge, die nicht gut liefen. Das ist auch so ein Relikt unserer Generation: eine einseitige Defizitorientierung. Auslöser für eine andere Form der Auseinandersetzung mit mir, nämlicher hinsichtlich einer Ressourcenorientierung, habe ich erst mit meiner Ausbildung als Coach gelernt, also gefühlt schon eher spät. Für jeden mag der Weg und auch der „Kompass“ ein bißchen anders aussehen. Ich beschäftige mich z.B. sehr intensiv damit, wie ich Situationen nicht nur kognitiv, sondern auch emotional und körperlich wahrnehmen und damit tiefer verstehen und auch verändern kann.
Wichtige und dauerhafte Ankerpunkte, an denen ich mich orientiere sind Gesundheit (Sport und Ernährung), Freunde, Partnerschaft, Beruf, Kultur. Und um diese im Auge zu behalten, schaffe ich mir regelmäßige „Stopps“, z.B. durch regelmäßige Meditation, Bewegung in der Natur, Journaling, der offene Austausch mit anderen, um andere Perspektiven zu bekommen. Feste Reflexionszeiten nach Trainings, Workshops, gesunde Ernährung, klare Trennung von Büro- und Privaträumen, regelmäßige Coachings etc. Und damit bin ich auch schon sehr zufrieden. Manchmal wünschte ich mir in der Umsetzung, z.B. im Sinne des Vertretens meiner inneren Überzeugungen nach außen noch ein wenig mehr Konsequenz. In jedem Fall: Selbstführung ist ein Dauerthema.
Du hast in deiner Masterarbeit Führungskräfte in Change-Situationen nach Erfolgstipps befragt. Welche Erkenntnisse konntest du dabei gewinnen ?
100 % haben geantwortet, dass es darum geht, sich in Change-Situationen erst einmal selbst zu reflektieren. Für sich selbst oder mit einem fremden Coach. Da hat sich eindeutig etwas verändert. Vor 20 Jahren hätte die Mehrheit vermutlich eher Methoden und Tools erwähnt, mit denen man Mitarbeiter beeinflussen kann.
Darüberhinaus ging es auch darum, wie Führungskräfte aktuell mit dem Spannungsfeld, den Ambiguitäten umgehen, die Veränderungsprozessen immanent sind. Z.B. wie schaffen sie es, Sicherheit zu vermitteln, obwohl sich doch gerade alles um sie herum verändert. Neigen sie eher zur Kontrolle oder geben sie ihren Mitarbeitern in solchen Situationen Spielraum. Bemerkenswert war, dass es fast keinen Diskurs zwischen Führungskräften in Unternehmen über Themen zu geben scheint, die nicht fachlicher Natur sind. Für 12 von 13 Interviewpartnern waren „Spannungsfelder“ negativ konnotiert. Nur einer sah es als Möglichkeit zu lernen, daran zu wachsen – hatte sich allerdings auch eigene Reflexionsmöglichkeiten geschaffen.
Selbstführung stärkt Vertrauen — in sich und andere
Meine Erkenntnis daraus war, dass mangelndes Vertrauen in Unternehmen diesen Diskurs behindert. Und zwar auf verschiedenen Ebenen: Fehlendes Vertrauen dem Chef gegenüber, untereinander, mangelndes Vertrauen gegenüber den Mitarbeitern, gegenüber der Organisation und fehlendes Vertrauen in sich selbst. Nämlich gut mit solchen Situationen umgehen zu können, auch wenn ich sie vielleicht noch nicht erlebt habe.
Ich habe mich dann gefragt, wie kann ich dieses Selbstvertrauen (wieder) her stellen ? Und damit wären wir wieder beim Thema Selbstführung: Wenn ich mir meiner Stärken und Schwächen, meiner Werte bewusst bin, mich immer wieder selbst reflektiere und auch eine gesunde Distanz zum Thema und sogar zum Unternehmen bekomme, Fehler nicht als Katastrophe, sondern als Chance zu lernen zu betrachten, dann stärke ich das Vertrauen in mich, auch solche unklaren Situationen meistern zu können.
Was sind aus deiner Sicht die Konsequenzen fehlender Selbstführung ?
Mangelnde Selbstführung kann z.B. in Führungs- und Orientierungslosigkeit münden („ich nehme mich selber nicht wichtig“), v.a. wenn mich auch keine anderen, gesetzten Strukturen unterstützen. Ich lande in einem Vakuum, dass mich hin- und herpendeln lässt, unsicher macht … Fehlende Selbstführung lässt aber auch mehr Raum für (zu viel) Führung durch andere. Jemand sagt mir, was ich zu tun habe, was nicht schlecht sein muss, aber auch dazu führen kann, wenn ich keine eigene, innere Orientierung habe, dass ich mich ggf. zu fragwürdigem Verhalten „verleiten“ lasse (s.a. die Compliance-Diskussion) – mir oder anderen gegenüber. Und häufig genug ist es eine Mischung aus beiden vorgenannten Phänomenen, die sich abwechseln.
Die Konsequenzen sind vielfältig: Diffuse Unzufriedenheit, das Gefühl anderen und ihren Ideen ausgeliefert zu sein, Ärger über die Entscheidungen von anderen; Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, Abhängigkeit von anderen, begrenztes Lernen und Entwicklung, fehlendes Selbstvertrauen/Selbstbewusstsein, mangelnde Konfliktfähigkeit, Emotionen nehmen einen zu großen oder zu wenig Raum ein …
Woran kann ich erkennen bzw. „messen“, ob mir Selbstführung gelingt ?
Bei mir erkenne ich es grundsätzlich daran, ob ich innerlich zufrieden bin, mich in meinem Tun wohlfühle und das auch auf mein Umfeld ausstrahle. So bin ich z.B. gerade richtig glücklich mit dem, was ich beruflich mache. Nämlich Change in Unternehmen gemeinsam MIT den Menschen zu gestalten, damit meiner Überzeugung, meinen Werten zu folgen und auch erfolgreich zu sein.
Als Führungskraft merke ich es z.B. daran, wie viel Energie ich einsetzen muss, damit mir die Menschen folgen. Meines Erachtens gelingt es leichter wenn ich z.B. innere Klarheit und Authentizität ausstrahle. Es fällt leichter, für mich und meine Werte ein zu stehen, schwierige Entscheidungen zu treffen oder auch Störungen zu benennen und ggf. in Konflikte zu gehen. Auf der anderen Seite scheue ich mich auch nicht, zuzugeben, wenn ich die Antwort oder die Lösung noch nicht weiß. Ich fühle mich gut genug „ausgerüstet“, Unsicherheiten auch mal aus zu halten und mit kreativen Methoden neue Wege und Lösungen zu finden.
Du coacht Führungskräfte und warst selber lange in Führung. Inwieweit würdest du Führungskräfteentwicklung vor dem Hintergrund von Selbstführung verändern ?
Bessere Selbstführung ist ja letztendlich auch ein Ergebnis von Persönlichkeitsentwicklung. Und die sollte in jedem Fall einen viel größeren (geschützten) Raum einnehmen. Vielleicht verbinden sich dann die gängigen „Führungstools“ viel schneller und organischer mit meiner Persönlichkeit. Mit einem besseren Verständnis für meine eigenen Motive und kritischen Punkte (Projektionen, Empfindlichkeiten, Emotionen …) kann ich meinem Mitarbeiter mehr auf Augenhöhe begegnen. Das ist eine wichtige Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Selbstführung bringt Führungskräfte dazu, sich stärker mit ihren Werten aus einander zu setzen. Emotionen mehr wahr zu nehmen, Verhalten zu reflektieren – immer und immer wieder. Das ist eine gute Basis für lebenslanges Lernen, mit jedem Ereignis und mit jedem neuen Mitarbeiter. Aber auch, um in einer sich schnell verändernden Welt, seine Orientierung zu behalten, Dinge überhaupt erst besprechbar zu machen und Mitarbeitern Sicherheit zu vermitteln.
Selbstführung — Voraussetzung für Lebenslanges Lernen …
Im Übrigen würde ich Selbstführung und v.a. die Fähigkeit zur Selbstreflexion auch als wichtiges Thema in der Mitarbeiterentwicklung sehen. Gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung, werden sich Prozesse und Inhalte für viele Mitarbeiter verändern. Das erfordert auch, Verantwortung für seinen eigenen Weg, sein eigenes Lernen zu übernehmen. Und nicht darauf zu warten, dass einem alles durch das Unternehmen geliefert wird (auch wenn ich diese nicht aus ihrer Verantwortung entbinden möchte). D.h. aus Mitarbeitersicht den eigenen Weg zu reflektieren, sich immer wieder für Lernmöglichkeiten zu öffnen, sie ein zu fordern und proaktiv Feedback ein zu holen. Vielleicht verändern sich dann auch die eher ritualisierten und nicht immer gut angenommenen Personalinstrumente (wie z.B. jährliches Mitarbeitergespräch)
… und Erfolgskriterium für die erfolgreiche Arbeit in stärker selbstorganisierten Teams ?
Das stimmt. Wo Führung (bewusst) zurückgenommen wird, um Mitarbeitern mehr Mitsprache zu geben und Engagement zu stärken, braucht es einen Rahmen/Spielregeln für die Festlegung des Weges. Auch für Entscheidungen, Umgang mit Konflikten, Feedback etc.
Zusätzlich braucht es aber auch Mitarbeiter, die Verantwortung übernehmen. Risiken eingehen, für ihre Belange einstehen, einen guten Zugang zu sich selbst haben, lernen wollen … Und das ist eben kein Selbstläufer. Und häufig auch der Grund, warum Selbstorganisation nicht überall „einfach“ funktioniert (und ja auch nicht überall sinnvoll ist). Das bedeutet Vorbereitung, Unterstützung, ständige Reflexion und Zeit. Selbstführung ist ein Lebensthema.
Für weitere Vertiefungen des Themas kann ich folgendes Buch empfehlen:
Renate Freister / Katrin Großer: Leadership-Kompetenz Selbstregulation
Eine spannende Betrachtung, deckt sich auch mit meinem Erfahrungen! Vielen Dank an Martina Baier!
Das freut mich, liebe Susanne !
Sehr interessantes Thema und ein sehr spannendes Interview!! 🙂
Vielen Dank für ein sehr inspirierendes Interview mit wertvollen Informationen und Anregungen für den privaten und beruflichen Kontext.
Die konkreten Beispiele regen zur Selbstreflexion und Umsetzung im eigenen Umfeld an — ein gutes Beispiel zu sein für gelungene Selbstführung ist eine schöne Vision.
Chapeau — ein wirklich sehr spannendes und tiefgründiges Interview mit nicht alltäglichen Gedanken. Eigentlich ist es uns allen klar, was darin besprochen wird .… und doch nicht .…
Weiter so, Martina!
Spannender Artikel, der zum Nachdenken anregt.
Eine sehr interessantes und inspirierendes Interview. Erfahrungen, die ich gemacht habe, habe ich in einem anderen Kontext wiedergefunden. Meine Neugierde ist geweckt und ich werde mich mal mit dem Buch-Tipp beschäftigen. Auch werde ich jetzt öfter auf Deiner Homepage nach spannenden Themen Ausschau halten. Danke für die Bereicherung.