Wann ist etwas fertig ? Geht das überhaupt ? Und was hat das alles mit Learning Journeys zu tun ?
Diese Frage hat mich sehr beschäftigt als ich letztes Jahr mindestens fünf Monate an EINEM Bild gemalt habe. Und es wahrscheinlich heute noch tun würde, wenn ich es nicht irgendwann einfach für „fertig“ erklärt hätte. Immerhin habe ich dabei viel gelernt: über neue Maltechniken, über mich und über “Learning Journeys“.
Manchmal scheint „Fertig werden“ ganz einfach, wenn es sich z.B. um den berühmten Kaffee handelt, die Waschmaschine oder ein Fußballspiel. Da steht das Endprodukt in einer bestimmten Definition fest. „Technische“ Verabredungen regeln das Ende des Prozesses.
Aber schon beim Wohnung aufräumen, Mails checken oder der Gartengestaltung wird es schwieriger. Die Fertigstellung hängt dann vielleicht an gesellschaftlichen Konventionen, am subjektiven Empfinden, an eigenen Grenzen, manchmal auch an der Ausdauer und Leidenschaft für ein Thema. Oder schlicht am vorhandenen Druck.
Noch offener erscheint mir das Ende bei vielen persönlichen Wachstums- und Entwicklungs- oder gar Kreativprozessen.
Wann ist ein Mensch erwachsen ? Wann ist er tod und gibt es das überhaupt ? Wann ist die Sinfonie vollendet, die Geschichte geschrieben, das Produkt entwickelt oder das Bild fertiggestellt ? Wer „darf“ das eigentlich entscheiden und was könnten Kriterien dafür sein ?
Die Meinungen hierzu sind wahrscheinlich so vielfältig wie die Künstler, Philosophen oder Pädagogen, die sich dazu geäußert haben. Allgemeingültige Definitionen gibt es jedenfalls nicht – allenfalls Annäherungen.
So hat der Bildhauer Heinz Günter Prager (gleichzeitig Kunstprofessor einer Freundin) seine neuen Studenten einst mit den Worten begrüßt:
„Der Künstler gleicht einem Seiltänzer (…).
Der wirkliche Seiltänzer bewegt sich zwischen Leben und Tod, auf dieses Messers Schneide bewegt sich ebenso der Künstler. Er kennt nicht das Ziel. Geht nicht von links nach rechts, um von dem einen zu dem anderen Masten zu gelangen. Sein Tanz auf dem Seil ist sein Ziel. Die Bewegung und die Anmut seiner Bewegungen auf dem Seil hält uns in Bann, nur dies. Nicht interessiert uns die Strecke, die er geht und nicht sein Ziel.
Der Seiltänzer ist Spiegelbild einer immerwährenden Anstrengung, vorgetragen mit Leichtigkeit.“
Puh! Das muss man sicherlich ein paar Jahre wirken und arbeiten lassen bis man es wirklich versteht. Aber es klingt irgendwie auch großartig.
Doch ist es übertragbar ?
Früher haben langsamere Veränderungszyklen vermeintliche „Endpunkte“ teilweise für viele Jahre definiert. Auch wenn es sich natürlich damals auch schon immer nur um einen Zwischenstatus auf dem Kontinuum eines andauernden Veränderungsstromes handelte.
In Zeiten exponentiell zunehmenden Wissens und permanenter Weiterentwicklungen wird uns diese ENDLOSigkeit immer mehr bewusst.
Das verändert Denk- und Produktionsprozesse:
Unvollkommenheit und Fehler haben ihren negativen Charakter verloren. Im Gegenteil: sie werden bewusst in Kauf genommen, sogar „produziert“, um daran weiter zu lernen. Noch besser zu werden. Oder schneller den „richtigen“ Weg zu finden. „Agilität“ und „schnelles Prototyping“ befeuern den Prozess. Nicht (nur) das Endprodukt ist wichtig, sondern auch die Lernerfahrungen unterwegs. Learning Journey !
Klingt gut ! Und trotzdem geht damit eine gewisse Atemlosigkeit einher, die auch eine Sehnsucht nach dem Ende entfacht — dem FERTIG werden.
Um einmal inne zu halten.
Zumindest für einen Moment.
Wohlwissend, dass es doch nur eine Illusion ist. Manch einer gibt sogar vor, „die Dinge vom Ende her“ denken zu können.
Von Führungskräften verlangt man die Fähigkeit „Futur backwards“ zu agieren. Hört sich dann fast so an, als gäbe es Menschen, die das Ende tatsächlich kennen !? Natürlich gehört auch hier Flexibilität dazu.
Auch viele Zielvereinbarungssysteme basieren noch auf dieser trügerischen Annahme. Immerhin hält meist nach einer gewissen Zeit die Realität wieder Einzug und die Ziele werden flexibel adaptiert – an die neue Vorstellung „vom Ende“.… Immer mehr solcher Systeme werden aber auch einfach abgeschafft bzw. an die immer schwieriger zu prognostizierende Umwelt angepasst.
Wahrscheinlich wird es ein ewiges Spannungsfeld bleiben zwischen Innehalten und (Fort-)Bewegung. Meines Erachtens braucht es tatsächlich beides – in Balance. Und dazu das Bewusstsein, das jedes „Ende“ eine Einladung zum Weitermachen enthält. An gleicher Stelle oder an einer anderen.
So habe ich nach einer Pause neue Bilder gemalt. Und manchmal auch alte einfach weiter entwickelt. Auch meinen eigenen Weg nehme ich wieder (mehr) als eine “Learning Journey” war. Das liegt zum einen an vielfältigen neuen Aktivitäten und Begegnungen, aber auch an der Zeit, die ich mir zur Wahrnehmung und Reflexion nehme. So macht lernen Spass und kann von mir aus noch lange so weiter gehen …
Welche Erfahrungen hast du mit dem Thema ENDE — FERTIGWERDEN vs. kontinuierliche Veränderung — ENDLOSIGKEIT gemacht ? Im Unternehmen oder auch privat ? Was bedeutet dieses Bewusstsein für (deine) Veränderungs- bzw. Lernprozesse ?
Sehr spannende und anregende Gedanken. Danke für einen interessanten Rundumblick auf dieses Thema.